Liberalismus auf der Probe – oder: Wie vermittele ich Toleranz, Akzeptanz, Unterschiedlichkeit als etwas Positives?

Dieser Tage mag man sich die Augen reiben. Erst outet sich unsere neue Bundesumweltministerin Barbara Hendricks in einem Nebensatz als lesbisch, und keine zwei Wochen später gibt der ehemalige Fußballprofi und Nationalspieler Thomas Hitzlsperger ein Interview, in welchem er erstmals öffentlich über seine Homosexualität spricht. Die öffentlichen Reaktionen könnten kaum unterschiedlicher sein, und das ist das eigentlich Bemerkenswerte. Ich glaube, ein Großteil der Leser dieses Artikels wird nun erstaunt sein zu erfahren, dass es nach dem ausgeschiedenen Guido Westerwelle wieder ein gleichgeschlechtlich liebendes Kabinettsmitglied gibt, tauchte doch die Meldung über Frau Hendricks Privatleben allenfalls unter „Verschiedenes“ auf der vorletzten Seite der Zeitungen auf. Ganz anders im Falle Thomas Hitzlspergers: Viele Tageszeitungen öffneten mit dieser Meldung auf Seite 1, Talkshows und die Hauptnachrichtensendungen thematisierten sein eigentlich Privates, die Bundesregierung in Gestalt des Sprechers Seibert bis hin zum britischen Premierminister David Cameron fanden Worte der Anerkennung, und Klaus Kleber vom heute journal fasste die Reaktionen treffend mit den Worten zusammen: „Es wird Zeit, dass sich die Gesellschaft outet – als immer noch befangen“. Befangen, weil man meinen würde, dass nach Klaus Wowereit, Guido Westerwelle, Dirk Bach, Anne Will und Michael Adam das Thema durch und keine Sensationsmeldung mehr wert sei – langweilige Normalität, die Frau Hendricks steigende Bekanntheitswerte verweigert. Und dann das Kontrastprogramm, von wegen Normalität, eher eine Sensation: Ein Profifußballspieler, wenngleich ein ehemaliger, eröffnet, dass er schwul ist! Der Fußball, der gerne als Spiegelbild der Gesellschaft bezeichnet wird, beweist, welch statistische Überraschung, dass es auch in seinen Reihen Homosexuelle gibt, und aus etwas Trivialem wird eine Sensation, die vermeintliche Normalität wird als nicht existent entlarvt. Doch was ist Normalität? Und ist Normalität erstrebenswert? Lässt sie sich sogar verordnen? Als liberaler Mensch wird man zumindest bei der letzten Frage entschieden mit Nein antworten, während man bei den ersten beiden Fragen wohl mit den Achseln zucken wird. Solange man niemanden stört oder einschränkt, darf man doch tun und lassen, was man will, und lieben und küssen, wen man will, und man sollte keine staatliche Einschränkung erfahren noch gesellschaftlich geächtet werden.

In diese Diskussion platzt nun eine Meldung über einen politischen Streit, der seit kurzem in Baden-Württemberg tobt. Die grün-rote Landesregierung ist dabei, die Bildungspläne des Landes zu überarbeiten und dabei auch das Thema Homosexualität überhaupt zu benennen und fächerübergreifend zu thematistieren. Ziel soll sein, dieses Thema nicht einfach nur im Biologie- und Sexualkundeunterricht abzuhandeln, sondern beispielsweise auch im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht (“der Autor war homosexuell, und möglicherweise hat ihn seine sexuelle Orientierung beim Schreiben beeinflusst”) oder eben auch in den Fächern Kunst, Geschichte, Politik und Ethik. Wissen schafft Akzeptanz, und dem Schimpfwort „schwule Sau“, auf deutschen Schulhöfen immer noch hoch im Kurs, sollte die Grundlage entzogen werden. Schließlich möchte man es schwulen und lesbischen Schülern erleichtern, mit ihrer Sexualität offener und selbstverständlicher umzugehen. So weit, so gut. Man möchte meinen, dass es sich um eine Selbstverständlichkeit handelt, die in anderen Bundesländern längst Normalität ist. Gegen diese Pläne läuft allerdings der Realschullehrer Stächle aus dem Schwarzwald Sturm, der eine Petition ins Netz gestellt hat und inzwischen fast 100.000 Unterstützer (Stand 11.01.2014), davon allein gut 44.000 aus Baden-Württemberg, gefunden hat. Unter dem Titel „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ fordert der Initiator unter anderem „den Erhalt des vertrauensvollen Verhältnisses von Schule und Elternhaus und den sofortigen Stopp einer propagierenden neuen Sexualmoral“ sowie „die Orientierung an den Werten unseres Grundgesetzes, das den Schutz von Ehe und Familie als demokratische Errungenschaft verteidigt“. Schwullesbische Gruppen würden „verschiedene Sexualpraktiken als neue Normalität propagieren“ und „im krassen Gegensatz zur bisherige Gesundheitserziehung“ stehen. Im neuen Lehrplan fehlte „komplett die ethische Reflexion der negativen Begleiterscheinungen eines LSBTTIQ-Lebensstils, wie die höhere Suizidgefährdung unter homosexuellen Jugendlichen, die erhöhte Anfälligkeit für Alkohol und Drogen, die auffällig hohe HIV-Infektionsrate bei homosexuellen Männern (…), die deutlich geringere Lebenserwartung homo- und bisexueller Männer, das ausgeprägte Risiko psychischer Erkrankungen bei homosexuell lebenden Frauen und Männern“. Was sich zunächst, gerade auch hinsichtlich der Begründung, als sehr krude anhört, fand im Internet fast 100.000 Unterzeichner und inzwischen die Unterstützung der Landeskirchen beider Konfessionen. Stächle führt aus, dass „die Eckpunkte einer neuen Sexualethik (…) eine Infragestellung der heterosexuellen Geschlechter von Mann und Frau“ meinen, „aber zugleich den Prozess des Coming-out zu neuen sexuellen Orientierungen pädagogisch propagieren und ihre Diskriminierung abwehren“ möchten. „(…) Lehrkräfte sollen die nächste Generation mit dem Anspruch, sämtliche LSBTTIQ-Lebensstile seien ohne ethische Beurteilung gleich erstrebenswert und der Ehe zwischen Mann und Frau gleichzustellen, an eine neue Sexualethik heranführen (…)“. Als liberaler Zeitgenosse fühlt man sich in einer Argumentationsfalle. Zwar lassen sich die o.g. Begründungen hinsichtlich der höheren Suizidalität oder Drogenabhängigkeit rational leicht entkräften, um nicht zu sagen, dass es eben Aktionen wie die Stächles sind, die Jugendlichen zusetzen, wenn sie ihre Sexualität entdecken und merken, dass sie den Geschlechtsgenossen attraktiver finden als das andere Geschlecht. Doch wer entscheidet, was normal ist und vor allem, was Jugendliche erstrebenswert finden sollen? Schülern soll eine Ethik vermittelt werden, doch welche Ethik soll gelten? Kann man einen Jugendlichen darin bestärken, zu sich und seiner Homosexualität zu stehen, und gleichzeitig benennen, dass seine Form des Liebens nicht erstrebenswert ist? Und wie steht man zur Glaubensfreiheit der Kirchen und ihrem Recht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und es zu gestalten. Gerade das Ethische ist der Kern kirchlichen Wirkens, und ungeachtet seiner eigenen Position, die ich an dieser Stelle nicht verhehle, möchte ich gerade anderen Glaubensrichtungen mit ihren Lebensentwürfen den Freiraum und sie am gesellschaftlichen Leben beteiligen lassen. Doch es erscheint ein Konflikt, der so einfach nicht zu lösen ist: Auf der einen Seite diejenigen, die für ihren abweichenden Lebensentwurf Anerkennung und Gleichberechtigung fordern, und auf der anderen diejenigen, die nur ihren eigenen als den wertvollsten sehen und anderen die Gleichberechtigung verwehren möchten. Wer hat recht? Und wie verhält sich der Staat mit seinem schulischen Bildungsauftrag, der gleichzeitig auch immer Erziehung bedeutet, welche eigentlich zuvörderst den Eltern obliegt? Handelt es sich hier um staatliche Bevormundung ähnlich eines Veggie-Days oder legitime Information und Wertschätzung für etwas Abweichendes, das doch eigentlich ziemlich normal wirkt? Wirken soll? Weniger als eine administrative ist das doch auch eine Frage der eigenen Haltung, oder?

Also alles normal im Jahr 2014? Kommt drauf an, was man unter Normalität versteht. Aber gesellschaftliche Diskussionen und Streit können sehr fruchtbar sein und einen voranbringen. Ich sehe der Auseinandersetzung gelassen entgegen – als Teil dieser Gesellschaft mit meiner eigenen Normalität ;-)